Das tapfere Schneiderlein

Märchen in 12 Bildern
von Heinz Mellmann

Text nach Jacob und Wilhelm Grimm

 

 

An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab und rief: »Gut Mus feil! Gut Mus feil!« Das klang dem Schneiderlein lieblich in den Ohren. Es steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus und rief: »Hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Ware los.« Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauf und musste die Töpfe sämtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran und sagte endlich: »Das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Lot ab, liebe Frau; wenn's auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauf an.« Die Frau, welche gehofft hatte, einen guten Absatz zu finden, gab ihm, was er verlangte, schimpfte und brummte aber, als sie wieder abzog.

»Nun, das Mus soll mir Gott gesegnen«, rief das Schneiderlein, holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich eine Scheibe über den ganzen Laib und strich das Mus darüber. »Das wird nicht bitter schmecken«, sprach es, »aber erst will ich das Wams fertigmachen, eh' ich anbeiße.« Es legte das Brot neben sich, nähte weiter und machte vor Freude immer größere Stiche.

Indes stieg der Geruch von dem süßen Mus hinauf an die Wand, wo die Fliegen in großer Menge saßen, so dass sie herangelockt wurden und sich scharenweise darauf niederließen. »Ei, wer hat euch eingeladen?« sprach das Schneiderlein und jagte die ungebetenen Gäste fort. Die Fliegen aber ließen sich nicht abweisen, sondern kamen wieder. Da lief dem Schneiderlein endlich, wie man sagt, die Laus über die Leber, es langte nach einem Tuchlappen und: »Wart, ich will es euch geben!« schlug es unbarmherzig drauf.

Als es das Tuch wieder aufhob und zählte, so lagen nicht weniger als sieben Fliegen vor ihm tot und streckten die Beine. »Bist du so ein Kerl?«, sprach das Schneiderlein zu sich und musste selbst seine Tapferkeit bewundern, »das soll die ganze Stadt erfahren.« Und in der Hast schnitt sich das Schneiderlein einen Gürtel, nähte ihn und stickte mit großen Buchstaben darauf: ›Siebene auf einen Streich!‹ – »Ei, was Stadt!« sprach es weiter, »die ganze Welt soll's erfahren!« Und sein Herz wackelte ihm wie ein Lämmerschwänzchen.

 

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